Bud Powell - zum Ersten
Präzision, Sensibilität bis hin zur äussersten Verletzlichkeit, einen weit in die Zukunft blickenden Tonfarbensinn, die Sprache des Bebop, der Bud Powell wie nur wenig andere mächtig ist, Seite an Seite mit der freien Geste. Das beschäftigt mich, wenn ich die einmalige Aufnahme von "Dry Soul" von Bud Powell höre.
Es ist bestimmt nichts Aussergewöhnliches, dass Bud Powell einen Blues aufgenommen hat, dafür gibt es viele Beispiele und weitaus Prominentere. Nein, das Einmalige ist seine Interpretation hier. Das Stück beginnt mit einem äusserst diffusen Akkord, als Vorhalt gespielt, auftaktig zum danach folgenden F7 Akkord, der die Tonika etabliert. Die einzelnen Töne dieses Vorhalt-Akkordes werden durch das Schleifen der Finger auf den Tasten verwischt. Was ist das für ein Klang, den wir hören? Ich höre wieder hin, doch der Laut entzieht sich mir von Neuem. Es scheint als hätte dieser Klang keine Materialität, nichts Greifbares. Doch er hat zur gleichen Zeit Gewicht, scheint mit grosser Schwere auf die Tasten gedrückt worden zu sein.
Bud Powell spielt denselben Akkord nochmals als Auftakt zur IV. Stufe in Takt 5 des Blues. Und wieder: was ist dieser Klang? Oder besser vielleicht wo ist dieser Klang? Ist er auf den Tasten zu finden, in den Händen Bud Powells (ist er nur mit seinen Händen möglich?), in meinem Ohr? Wie klingt diese Stelle in Powells Ohren? Allgemein gefragt: wo ist Klang in Zeit und Raum zu finden? Es ist meisterhaft wie präzise er diese "Zwischenklänge" klanglich kontrollieren und wiederholen kann.
Ein mysteriös langsames Tremolo folgt und verlängert den Bb 7 Akkord. Das langsame Tremolo ist eine selten gehörte Klanggeste - eine solche impliziert Trauer, Melancholie, bildhaft ein zitternder Körper in der Kälte. Ueblicherweise ist das Tremolo eine schnelle Bewegung. Powell scheint hier diese Spielfigur zu befragen in dem er ihre Zeitlichkeit zerdehnt. Ein darauffolgender Akzent schneidet die Geste abrupt ab.
In Takt 9 wenn der Blues auf seinem Weg von der II. zur V. Stufe ist, verlieren wir jeden Halt: die Clusterklänge, die in den Randtönen eine vermeintliche Klangdefinition von G7 und C7 andeuten, sind nicht mehr zu fassen - ähnlich einer sich überschlagenden, schreienden Stimme. Ist hier die Stimme des Blues zu finden? Woraus bestehen diese Klänge? Kann ich die einzelnen Noten hörend herausfiltern? Das wäre jedoch längst nicht alles in diesem Moment gewesen. Wie spielt, bringt Bud Powell dieses Timbre hervor? Haben diese Akkorde eine Substanz? Sind sie nicht bloss eine Folge von Intensitäten?
Das Thema ist ein mächtiger Ruf in die Wildnis. Schwer liegt es in der Luft. Präzision in Timing und Dynamik wechselt sich ab mit Setzungen, die sich unbestimmter anhören. Aber was bedeutet hier unbestimmt? Die scheinbar nur angedeuteten Melodiephrasen, Klangbewegungen die freier ins Timegefüge eingesetzt sind - solche sind auch gut zu hören in der auf das Thema folgenden Improvisation über der Bluesform - sind nur beim ersten Hinhören zögerlicher ausgeführt. Die Stärke solcher Phrasen liegt in ihrer anderen Zeitlichkeit und dem gelockerten Bezug zum ordnenden Puls. Solche Gesten bringen ein anderes Element in die Sprache der Bebopphrasen ein, sie liegen in diesem freiem Raum, zwischen den präzisen Vierteln, eröffnen auf diese Weise andere Möglichkeiten der rhythmischen Gestaltung des Raumes. Freiere Gesten sind eine Erweiterung des Phrasenrepertoires des Bebop, sie wirken wie eine Sprengung des Zeitgefüges aus dem Zwischenraum heraus.
Ich höre Bud Powells Spiel in seinen intensivsten Momenten immer im Spannungsverhältnis zwischen drängender Bestimmtheit und offengelegter Verletzbarkeit. In "Dry Soul" gibt es unzählige Momente, wo dies deutlich wird. Dies macht diese Aufnahme für mich so wertvoll.
Bud Powell dürfte ein Musiker sein, der sich uns erst nach und nach erschliesst. Als Improvisator und als Komponist berührt er, meiner Meinung nach, in vielerlei Hinsicht unmittelbar musikalische Fragen, die uns heute beschäftigen. Dies werde ich versuchen in weiteren Texten zu untersuchen.