Das komponierende Ohr

"Der Ohrenzeuge bemüht sich nicht hinzusehen, dafür hört er um so besser." (Elias Canetti / Der Ohrenzeuge Fünfzig Charaktere)

"I never imagine anything until I experience it. (John Cage, in einem Gespräch 1969 / erwähnt in "John Cage" von Richard Kostelanetz)

 

Es scheint mir als wären die Komponisten in ihrer Vorgehensweise in zwei Gruppen gespalten: da sind Diejenigen, und das sind, davon gehe ich aus die Meisten, die Komponieren in dem sie aufschreiben, was sie innerlich hören. Bekannt ist das romantische und übersteigerte Bild des Komponisten, der allein in seiner Schreibklause, in höchster geistiger Konzentration den Klängen lauscht. Vittore Carpaccios berühmtes Gemälde von der "Vision des Heiligen Augustinus" portraitiert den Humanisten im Zustand der Inspiration, eine grossartige Darstellung geistig-künstlerischer Arbeit in diesem Sinn. Komponieren heisst weiter das Niedergeschriebene weiterentwickeln fortdenken, befragen und auf Sinnhaftigkeit prüfen.

Heute werden mittels Technologie musikalische Formen auch am Computer berechnet. Hierfür wäre Iannis Xenakis ein Beispiel am Anfang dieser Entwicklung: er brachte, als einer der ersten, mathematische Modelle (Stochastik, Siebtheorie, Mengenlehre, Spieltheorie) in die Komposition ein. Komposition ist für ihn ein Mittel mathematische Prozesse durch Klänge hörbar und somit erfahrbar zu machen. Xenakis schreibt lapidar: "Was man beim Hören wahrnimmt, ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Anhäufung von Tönen in vielfältigen Registern."

Entscheidend ist bei dieser ersten Gruppe von Komponisten, dass eine Absicht vorhanden ist etwas zu tun, eine ἰδέα durch das Komponieren in eine Form zu bringen.

Die anderen Komponisten (der zweiten Gruppe) gehen anders vor. Dazu würde John Cage gehören, der in verschiedenen Gesprächen stets betont hat, ein absichtsloses Komponieren zu verfolgen. Das Zitat am Anfang dieses Textes spricht dies an und stellt gleichzeitig die bedeutsame Frage: Wie findet Erfahrung statt? In welchem Verhältnis stehen Erfahrung und Vorstellung (lat. imago)? Bei Cage würde die Erfahrung, die Vorstellung erst auslösen. Dies ist im Hinblick auf das Komponieren ein äusserst interessanter Gedanke. Die Idee ist eine Erfahrung.

Was wird beim Komponieren zur Schrift gebracht? In meinen Überlegungen geht es mir um denjenigen Moment, wenn der Komponist niederschreibt, das heisst festhält beziehungsweise Entscheidungen trifft. Es interessiert mich was für ein Vermögen Hören ist. Was hört (imaginiert) der Komponist mit seiner Vorstellungskraft beim Komponieren? Wie entscheidet er sich für etwas? Dann mit John Cage gefragt: Gibt es die absichtslose Entscheidung? Wie wirkt sich die absichtlose Handlung auf das Werk aus? Würde das "Werk" auf diese Weise sich selbst überlassen? Absichtslos würde im Sinne Cages bedeuten, dass Erfahrung und Vorstellung zeitlich zusammenfallen, dass Imagination erst mit einer Hörerfahrung möglich wird und dies ohne eine Absicht formulieren zu können. Absicht als etwas Unerwünschtes? Die Grenzen zwischen Werk, Hörer, Komponist und Interpret sind aufgehoben. Das Werk entsteht zeitlich mehrmals, beim Komponieren, wenn der Musiker die Komposition übt und beim Hören im Konzert.

Musik ist ein flüchtiges Medium. Töne und Klänge entziehen sich uns ständig. Dazwischen Stille, dann wieder Einsatz und Ereignis. Das Ohr versucht zu (er)fassen, abzutasten, zu (er)greifen. Klang dringt von aussen an und in unser Ohr. Ein gehörter Klang kann erinnert werden - der Klang wird auf diese Weise innerlich nachvollzogen. Wie gut kann unsere Erinnerung an Klang sein? Ist Komponieren erinnern, hören, oder gar etwas ganz anderes? Wir hören Strukturen, Melodien, längere Verläufe, Form, Details, Rhythmus, dynamische Bögen, Pausen und Stille. Hören ist äussere Erschütterung und inneres Nachvibrieren, eine Resonanz im Innenraum.

"I was silent: now I am speaking". Mit diesem bestechend einfachen Satz beschreibt John Cage treffend was Musik und Komponieren ist: Aktion und Stille. Elias Canetti beschreibt seinen "Ohrenzeugen" als jemanden, der sich bemüht nicht hinzusehen, sondern nur zu hören, dabei sich nur auf diesen einen Sinn zu konzentrieren und damit ein Zeuge auf dem Horchposten zu sein.

 

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