Eskelin - Weber - Griener Sensations Of Tone
Es gibt Musik, die greift uns an, nimmt von uns Besitz, versetzt uns in Erregung, weil sie die uns scheinbar vertraute Welt durcheinanderwirbelt. Auf dem Album "Sensations Of Tone" stellen die Musiker Ellery Eskelin, Christian Weber und Michael Griener, freie Improvisationen, Stücken aus dem früheren Jazz gegenüber.
Man denkt vielleicht zuerst, dass dieser Wechsel kaum funktionieren kann, wir werden hier aber ziemlich schnell eines Besseren belehrt. Es ist genau diese Gegenüberstellung, welche die gewohnte Welt durcheinanderbringt und die auf diesem Album perfekt gelingt.
Haben wir uns nicht schon daran gewöhnt, dass frei Improvisiertes und Jazz auf dem selben Album nicht zusammengehen kann? Der Klassifizierungswahn unserer Gesellschaft, Musik immer mit lächerlichen Stiletiketten versehen zu müssen, um sie dadurch auch für den Markt zu optimieren, das sind Dinge, die so nicht haltbar sind. Die Musik auf diesem Album lässt uns teilhaben daran, wie Wandel und Wechsel als Möglichkeit genutzt werden können.
Diese drei Musiker überhören nichts. Aus den kleinsten Nuancen und feinsten Schattierungen holen sie alles heraus. Das Zusammenspiel ist von hoher Aufmerksamkeit durchdrungen und das Trio wird zu einem grossen Instrument.
Der Albumtitel "Sensations Of Tone" geht auf das 1863 veröffentlichte Buch "Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik" von Hermann von Helmholtz zurück. Ich erinnere mich, dass mir Christian Weber in einem Gespräch, das schon ein paar Jahre zurückliegt, von diesem Buch erzählt hat. Helmholtz schreibt darin: "Das Endziel der Naturwissenschaft ist, die allen Veränderungen zugrundeliegenden Bewegungen und deren Triebkräfte zu finden..". Ich muss an diesen Satz denken, wenn ich die Musik von Eskelin - Weber - Griener höre. Dieses Trio dringt in die Klänge ein, erforscht deren Ursprung, setzt Kräfte in Bewegung.
Die Titel der Stücke erzählen die Geschichte dieses Trios, die verschiedenen Stationen während der Proben und Aufnahme in New York. Orte, die bei den drei Musikern Erinnerungen und Assoziationen auslösen - sie erzählen diese Geschichten selber sehr schön im beiliegenden Booklet.
Sind es Zeitreisen, die wir machen, wenn wir hörend von "Orchard And Broom" zu Jelly Roll Mortons "Shreveport Stomp" fortschreiten? Oder sind das gar keine Zeitsprünge, sondern ein Gleichzeitiges, die Ueberwindung von Gestern und Jetzt? Ein Nachher steht immer in Beziehung zum Vorangegangenen. Wenn wir heute den 1922 von Phil Boutelje und Dick Winfree komponierten Hitsong "China Boy" hören, kann dies immer nur aus einem Hier und Jetzt heraus geschehen. Wir hören all die berühmten Aufnahmen von "China Boy" - von Bix Beiderbecke, Louis Armstrong, Sidney Bechet, Fats Waller, Charlie Parker und so viele mehr - und daraus setzen wir dann das "(Hör-)Bild" zusammen, dass wir von einem Song wie "China Boy" haben. Doch auch die vermeintlich "freie" Musik hat ihre "(Hör)-Bilder", alles was in der Erfahrung und Erinnerung der Musiker und Hörer gespeichert ist, und mittels Intuition hervorgebracht wird, kommt in diesem "Bild" zusammen. Was bedeutet Erinnerung an den Jazz und was entsteht dabei? Wie entsteht möglichst grosse Freiheit in der improvisierten Musik? Wie gehen Musiker im Jazzkontext mit dem Wechsel von Konstruktion und Intuition um? Dieses Trio verlangt uns derartige Fragen ab.
Wenn wir Benny Motens grossen Erfolgshit von "Moten Swing", (auch "Moten`s Swing" geschrieben) mit dem Kansas City Orchestra aus dem Jahr 1932, gespielt von Eskelin-Weber - Griener hören, ist das nicht nur Verehrung, sondern tiefe Auseinandersetzung mit der Tradition. Ein weites Hineinhören in die Klänge dieser Musik, die Suche nach der perfekten Melodie über die Harmoniefolge, es geht auch darum dieses Stück mit der Erfahrung des Free Jazz zu spielen. Und im darauffolgenden "Dumbo"? Freie Musik aus der Hörerfahrung eines Jazzstandards heraus zu spielen. Natürlich weiss ich nicht, in welcher Reihenfolge die Stücke aufgenommen wurden, aber das ist auch nicht relevant hier, Die Bezüge entstehen durch unser Hören.
Ich habe den Eindruck, dass die Stücke nacheinander auch ein weisses Blatt darstellen, einen Neuanfang, einen Radiergummi, eine Zäsur, eine Pause (oder mit dem schönen Ausdruck der "gefärbten Pause" von Stockhausen). Wir hören Fats Wallers wohl berühmtestes Stück "Ain`t Misbehavin`" ganz bestimmt anders nach dem wir Dumbo gehört haben. Wäre dann "Dumbo" - das Frei-Improvisierte - das "weisse Blatt Papier", welches es möglich macht, dass wir hörend bei Waller wieder neu ansetzen können? Oder sind es die Jazzstandards, die uns die so wunderbaren Stücke wie "Ditmas Avenue" oder "Cornelia Street", neu, mit "leerem" Ohr und Geist hören lassen? Ich weiss es nicht.
Diese Polarität, die ziemlich sicher keine ist, macht dieses Werk von Ellery Eskelin, Christian Weber und Michael Griener so bedeutend. Ein grosses Album!