In Memoriam: Bobby Hutcherson

Wie kann ein Ton mit soviel Gravität (in der Bedeutung von Würde und Gemessenheit, und der Wortnähe zu Gravitation) und Gewicht gespielt werden und gleichzeitig von solcher Beweglichkeit und fluider Qualität sein? Bobby Hutcherson konnte solche Töne spielen. Er hatte diese Fähigkeit den Zuhörer mit seinen Noten sofort in Bann zu ziehen. Seine Linien sind wahre Meisterwerke in der Struktur, vermitteln etwas unendlich Tiefes, tragen ein Geheimnis, dringen aus einer tiefer liegenden Bewusstseinsschicht hervor. Es gibt wenige Musiker, die diese hypnotische Stärke in ihrem Sound, in ihrem Spiel haben - John Coltrane kommt mir natürlich in den Sinn.

Hören wir das Stück "Verse" aus dem Album "Stick - Up!", das Hutcherson im jungen Alter von 27 Jahren für das Label Blue Note eingespielt hat. Das Stück beginnt rubato mit lang gehaltenen Noten über wechselnden Harmonien mit festem, liegenbleibendem Bass. Die Noten des Vibraphons, die Klavierakkorde, von MyCoy Tyner (der perfekte Spielpartner für Hutcherson - ein Seelenverwandter) im Tremolo gespielt und den stupenden Wirbeln von Billy Higgins auf den Becken eröffnen das Stück mit dichtem, orchestralem Klang. Die Melodie wird mit grösster Ruhe vorgetragen, die Pausen atmen diese Ruhe ein. Das Intro endet mit akzentuierten Akkorden, von allen Musikern zusammen gespielt, und führt direkt in den langsamen 3/4 Swing hinein. In seinem Solo über zwei Akkorde spannt Hutcherson einen grossen Bogen, beginnt mit sich wiederholenden Phrasen und entwickelt daraus später längere Melodiebögen mit mehr Halbtönen. Die Band begleitet das Solo mit grösster Aufmerksamkeit, Spirit und Verve. Billy Higgins orchestriert das Geschehen mit grossem Cymbalklang und schweren Sidestick- Holzklängen. Ich erwähne dieses Stück so ausführlich, weil ich mit meiner Beschreibung versuche zu zeigen, dass hier viele wichtige Elemente von Bobby Hutchersons Spiel bereits angelegt sind.

Ich möchte Hutchersons Klang folgendermassen beschreiben: ein fester, solider Kern, der unverrückbar in Raum und Zeit gehalten ist. Um diesen Kern gibt es eine äusserst bewegliche Schale. Sie passt sich allen denkbaren Formen an; zeitlich-rhythmisch, klanglich-melodisch. Hutcherson besitzt ein riesiges Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten, es scheint als gäbe es keinen Ton ein zweites Mal. Im Intro von "Verse" spielt Hutcherson mit grosser dynamischer Sicherheit und Ausdrucksgenauigkeit. Es ist dieses präzise innere "Voraushören" der dann darauffolgenden Aktion, die mich berührt. Hier zeigt sich Bobby Hutchersons ganze Meisterschaft, seine klangliche Vision in präzisester Form auf sein Instrument zu übertragen.

Auf "Stick-Up!" befindet sich auch das Stück "Summer Nights", ein impressionistisches Klanggemälde, wie es beispielhaft für Hutcherson ist. Lyrisch und mit unterschwelliger Melancholie schwebt die Melodie in der Luft, um sich dann in den Akkordfarben aufzulösen. Die Harmoniefolgen sind von berückender Schönheit und bringen überraschende Wendungen hervor. Hutcherson ist ein brillianter Komponist. Seine Melodien sind verdichtete Erfahrung, er besitzt ein grosses Wissen über die Funktion von Harmonien. Ich denke, dass sein kompositorisches Werk nach wie vor viel zu wenig wahrgenommen wird.

In den sechziger Jahren nahm Bobby Hutcherson als Leader und auch als Sideman für Blue Note grossartige Alben auf. Nicht zu vergessen: auf Eric Dolphys "Out To Lunch", hört man Hutcherson in einem freieren, experimentelleren Kontext. Auch auf dem einmaligen Album "Evolution" des Posaunisten Graham Moncur, mit Lee Morgan, Jackie McLean, Bob Cranshaw am Bass und dem Drummer Tony Williams, präsentiert er sich als Spieler, der in jeder Situation seinen Ort findet und Bedeutendes beizutragen weiss. Beide Aufnahmen haben auch heute noch wegweisenden Charakter.

Bobby Hutcherson hat in seinem Leben viele grossartige Aufnahmen gemacht. Ich beschränke mich hier auf diese bescheidene Auswahl aus seinem Werk und freue mich bei anderer Gelegenheit über andere Aufnahmen von ihm zu schreiben.

Hutcherson ist ein fesselnder Geschichtenerzähler, der immer unerwartete Wendungen in der Erzählung für uns bereithält. Sein akkurates Time, die unerschöpfliche melodische Erfindungskraft, die Eleganz und Leichtigkeit seines Spiels, die Strahlkraft seines Klangs sind einmalig und eindrucksvoll. Bobby Hutcherson wird ewig einen festen Platz in der Geschichte des Jazz haben.

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