Wiedergehört: die legendären Aufnahmen von Rudy Van Gelder
Es würde sich um ein gigantisches Arbeitsprojekt handeln, wollte man alle Aufnahmen durchhören und genauer studieren die Rudy Van Gelder im Laufe seines langen Lebens gemacht hat. Ich beschränke mich hier deshalb auf eine persönliche Auswahl von Aufnahmen, die für mich in meiner Hörbiographie sehr wichtig sind. Grossartige Alben des Jazz, teils auch nach längerer Zeit, wiederzuhören, um sie aus der jetzigen, heutigen Wahrnehmung erneut zu erfahren, ist eine äusserst aufschlussreiche und bereichernde Tätigkeit.
Wayne Shorter "Speak No Evil". Welcher Jazzmusiker kennt dieses Album nicht? Ein Meisterwerk von zeitloser Schönheit. Rudy Van Gelder hat diese Aufnahme an Heiligabend, am 24.12 1964 gemacht. Veröffentlicht wurde es von Blue Note erst 2 Jahre später, 1966. Grossartige, geheimnisvolle Kompositionen von Shorter, gespielt von einer fantastischen Band. Einmal gehört, wird man wohl nie wieder das Zusammenspiel von Herbie Hancock und Elvin Jones, hier auf dieser Aufnahme, vergessen. Die bluesigen, knisternden Antworten von Herbie Hancocks Klavier, während dem getragenen Thema von "Speak No Evil" und die präzisen, kistallklaren Cymbals von Elvin Jones sind so plastisch und direkt aufgenommen, als sässe man in unmittelbarer Nähe der Instrumente. Hier zeigt sich auf schönste Weise die Meisterschaft von Rudy Van Gelders Aufnahme. Er gibt den Instrumenten ihren Raum, lässt sie atmen, formt den Klang entscheidend mit. Ein persönliches Highlight sind die Snareschläge abwechselnd auf die Eins und die Vier-Und, zu Beginn des Solochorus von Wayne Shorter. Diese mächtigen Aufschläge von Elvin Jones bekommen durch die Aufnahme einen wunderbaren Klangraum, scheinen sich radial noch stärker auszubreiten.
Im Stück "Wild Flower" hört man jedes kleine Detail auf der Snare, so werden die polyrhythmischen Ideen und Verschiebungen in Wayne Shortes Solo, erst verständlich und greifbar. Auch hier als kontrastierendes Element ein Bläserthema mit lang gehaltenen Noten. Trompete und Saxophon mischen sich und reiben sich an den musikalisch, entscheidenden Stellen auch. Die Aufnahme von Rudy Van Gelder lässt beides zu. Das Melancholische der Melodie, die zeitweise an einen Trauermarsch erinnert, wird hier aufnahmetechnisch perfekt abgebildet. Es ist und bleibt eine interessante Frage: wie kann musikalischer Ausdruck und Sentiment auf einer Aufnahme eingefangen, abgebildet werden? Und wieviel darf und soll die Aufnahme eingreifen, verändern? Van Gelders Aufnahmen hören genau hin, greifen die Atmosphäre der Musik auf, schaffen die dafür notwendige Architektur, damit sich die Klänge entfalten können.
Horace Silver "Song For My Father". Auch dieses Album von Pianist und Komponist Horace Silver hat grossen, populären Status erlangt, längst nicht nur bei Jazzliebhabern. Vermutlich ist "Song For My Father" beinahe so berühmt geworden, wie Dave Brubecks "Take Five". Ich habe dieses Album immer sehr gemocht. Der Klaviersound von Horace Silver blieb in meiner Erinnerung hängen, und ich bringe seinen persönlichen Klang immer mit diesem Album in Verbindung.
Eintauchen in seinen dunklen, bluesigen Klang, kann man sehr gut beim Stück "Que Pasa?" Silver repertiert hier während des Themas einen mystischen Db moll 7 Akkord. Der Akkord ist die Antwort auf die Sequenz des Themas - von Bläsern und Klavier zusammen gespielt - die Akzente dieser Antwort werden von Roger Humphries auf den Cymbals mitgespielt. Für mich ist dieser Akkord DER "Silver-Sound". Der Flügel ist hier anders aufgenommen, als auf "Speak No Evil": mehr eingebettet in den gesamten Gruppensound, weniger perlend, dunkler in der Farbe. Der Vergleich beider Alben ist aufschlussreich. Es macht musikalisch vollkommen Sinn den Flügel verschieden aufzunehmen. Es ist klar, dass Herbie Hancocks Sound zwar eine gewisse Nähe zu Silver hat, aber von ganz anderer Art ist. Rudy Van Gelder hat hier genau hingehört. In beiden Aufnahmen legt er wichtige musikalische Verbindungen frei. Er bildet die Instrumente so ab, dass sie aufeinander antworten können. Auch hier spielt die Verbindung von Piano und Drums eine entscheidende Rolle für die Gestaltung der Komposition. In "Que Pasa?" greifen der Db moll 7 Akkord und der Klang der Toms des Latin-Grooves auf stimmige Weise ineinander.
Das repetitive Spiel der Akkorde zieht Horace Silver auch in sein Klaviersolo weiter. Jede Differenz in den Akkordfolgen bekommt durch die lange Repetition des gleichen Klangs eine besondere Bedeutung; man wird überrascht durch den Farbwechsel zu Dominantseptakkorden. Es öffnen sich ein neuer Raum, ein wundervoller Moment in diesem Stück - und auch eine wichtige Lektion für das Spiel des jungen Herbie Hancock.
Unbedingt anhören sollte man sich auch die Trionummer "Lonely Woman", eine grossartige Ballade von Horace Silver. Der Sound des Trios ist hier auf spezielle Weise kompakt, die Instrumente scheinen aneinander zu kleben. Die Wärme des Klangs von Piano und Bass und das feine, aber sehr leise gemischte Schlagzeug sind erstklassig aufgenommen.
Ich möchte auch gern noch auf die Aufnahme der Perkussionsinstrumente am Anfang von "Calcutta Cutie" hinweisen; die Cymbals, die kleinen Gongs gehören zu meinen liebsten Aufnahmen von Perkussionsinstrumenten. Detailliebe ist wesentlich in Rudy Van Gelders Arbeit.
Cecil Taylor "Conquistador!" Wie bildet man Dichte auf einer Aufnahme ab? Diese berühmte Aufnahme von Cecil Taylors Ensemble aus dem Jahr 1966 stellt ganz andere Anforderungen an eine Aufnahme: eine Gruppe mit 2 Bässen (Alan Silva und Henry Grimes), Drums (Andrew Cyrille), Trompete (Bill Dixon) und Saxophon (Jimmy Lyons) und Taylor am Flügel. Eine Musik von grosser Dichte, die vorwärtsdrängt, eine geballte Energieladung, die auf den Hörer einstürzt.
Nat Hentoff weist in seinen Liner Notes auf eine Aussage von Cecil Taylor hin. "One thing I learned from Ellington," betont Taylor, "is that you can make the group you play with sing if you realize each of the instruments has a distinctive personality; and you bring out the singing aspect of that personality if you use the right timbre for the instrument." Könnte diese Aussage nicht auch ausschlaggebend für das Aufnehmen dieses Ensembles sein? Man muss genau auf die Klangfarben der einzelnen Instrumente der Spieler hören um diese einfangen zu können. Hier wird eine sensible Frage berührt: Wieviel darf der Toningenieur in den persönlichen Sound des Musikers eingreifen? Kann eine Aufnahme den persönlichen Klang eines Musikers zerstören? Neben all der grössten Wertschätzung, die Rudy Van Gelder, von seitens vieler Musiker erhalten hat, gab es auch kritische Stimmen zu seiner Art aufzunehmen. Charlie Mingus war der vielleicht berühmteste Kritiker Van Gelders. "Er zerstört meinen Sound" meinte der Bassist. Wie muss eine Aufnahme sein, um den Klang eines Musikers nicht zu verändern möglichst originalgetreu wiederzugeben? Ist das überhaupt möglich? Wann ist Klang überhaupt in seiner reinsten Form erfahrbar? Kann eine Aufnahme den Klang eines Musikers überhaupt zerstören und liegt Mingus hier falsch? Wieviel darf ein Tonmeister von seiner eigenen Persönlichkeit mit einbringen? Diese Fragen muss man länger diskutieren und ich bin mir nicht sicher, ob eine Debatte zu Lösungen führen würde. Trotzdem sind solche Fragestellungen für eine gelungene Aufnahme von grosser Wichtigkeit.
Das zweite Stück "With (Exit)" ist eine der grossartigen Melodien von Cecil Taylor. Ich möchte anmerken, dass Taylors Ensemble Werk noch immer viel zu wenig gewürdigt wird. Dieser lange, klagende Melodiebogen mit seinen Wechseln, den stockenden Gesten, den fliessenden Gesängen, den harschen Antworten des Klaviers, dem Dialog der Bässe und das Ausschütteln der Brushes von Andrew Cyrille, gehört für mich zu den Höhepunkten was der Jazz an Lyrik hervorgebracht hat. Das Stück ist dicht, die Instrumente agieren, wie viele einzelne Stimmen in einem grossen Raum, es gibt viele kürzere Duos, Trios in der grossangelegten Improvisation, aber auch ein Trompeten- und Saxsolo. Rudy Van Gelder hat auch hier das ganze Geschehen plastisch eingefangen, es wird haptisch, die Instrumente haben Raum zu atmen, der Flügel steht räumlich im Zentrum, handelt aus der Mitte heraus als Dirigent, verschiebt die Klangschichten, gibt Impulse an die Instrumente weiter. Andrew Cyrille spielt grossartig in die Zwischenräume hinein und heraus. Das lange Klaviersolo ist von grosser Wucht, durchquert alle Register, klingt brilliant und erdig. Die Aufnahme macht dies alles hörbar. Aus meiner Sicht ist dies auch das grosse Verdienst von Rudy Van Gelder.